Megatrends einer soziotechnologischen Gesellschaft
Übergang vom Individuum zum Dividuum
Die Digitalisierung verändert die Gesellschaft, so wie es bereits vor ihr viele technologische Systemwechsel getan haben. Der Buchdruck hat das gesellschaftliche Individuum hervorgebracht und die Digitalisierung transformiert es. Aus dem Individuum wird das Dividuum. Vor dem Buchdruck wurden Bücher in der Gemeinschaft laut vorgelesen und die Zuhörerschaft erlebte auf diese Weise gemeinsam die selben Gedanken und Gefühlen.
Mit Aufkommen des gedruckten Buches als ein standardisiertes Massenprodukt und eine zunehmende Alphabetisierung las jeder für sich selbst und befand sich in seiner eigenen Gedankenwelt. Heute ist die Freiheit der eigenen Gedanken die Grundsäule unserer demokratischen Gesellschaft.
Treibt in einer pluralistischen Welt die Gesellschaft im Rahmen einer fortschreitenden Individualisierung auf eine Auflösung durch eine wachsende Autonomie ihrer Mitglieder zu, oder erlebt die Menschheit durch die Entstehung einer globalen Einheitskultur auf Basis der westlichen Kultur eine zunehmende Kollektivierung und Vereinheitlichung ihrer Mitglieder?
Oder kumuliert sich in jedem Individuum und sogar in jedem Augenblick des subjektiven Erlebens die pluralistische Gesellschaft durch fortschreitende Verzweigung ihrer Fasern. Damit stellt sich die Frage, ob in einer global vernetzten Welt sich das Individuum zu einem Dividuum entwickelt, indem es sich fächerartig ausbreitet und sich in einer kollektiven divergenten Struktur auslebt. In dieser zerstreuten Perspektive ist es jedem Mitglied der Gesellschaft möglich seine ausgeprägteste Eigenart und seine größte Freiheit zu erreichen. Die Vielheit in der Einheit.
Die Digitalisierung mit ihrer Echtzeit-Vernetzung aller gesellschaftlicher Prozesse führt zu einer Dezentralisierung der Gedankenwelt des Einzelnen. Das Individuum verteilt sich mit seiner Weltwahrnehmung und seine Gedanken in der digitalen Welt. Auf diese Weise entsteht ein Global Brain, in dem die Gedanken aller Menschen hin und her huschen. Meine Gedanken sind deine Gedanken und deine Gedanke beeinflussen meine Gedanken. Damit spielt jedes Dividuum als ein Local Player im Global Game mit.
Globale Fragen und Belange beschäftigen uns zunehmend mehr. Ob relevant oder nicht relevant können wir oftmals ad hoc kaum mehr unterscheiden. Klar ist jedoch, dass wir uns einer Flut an Informationen ausgeliefert sehen, die überhaupt erst in unser Leben einsortiert werden müssen. Das Ganze ist das Resultat einer kontinuierlichen Vernetzung unserer Welt. Vernetzung mit Computern, Tablets, Smartphones und vielen anderen Gadgets. Vernetzung mit anderen Menschen. Vernetzung von Benutzerkonten, Kanälen, Plattformen und unzähligen anderen Informationen. Dies ist erst der Anfang einer unvorstellbaren Vielzahl von vielen weiteren Vernetzungen, die noch folgen werden.
Der Mensch tut es dabei der Natur und auch seinem eigenen Gehirn gleich, welches ständig bestrebt ist, Informationen in einen Kontext zu setzen und durch Verbindung mit Synapsen mit anderen Gehirnzellen zu vernetzen und dadurch seine zukünftige Wahrnehmung zu verändern. Wenn es uns dabei gelingt, diesen Vorgang nicht nur passiv mitzuerleben, sondern aktiv mit zu gestalten, in einem Bewusstsein dieses Prozesses, dann sind wir wahrlich am Beginn des Homo Dividuum.
Erweiterung der individuellen Lebenswelten
Neben einer von uns zu beobachtenden planetaren Kollektivbildung, regestrieren wir gleichzeitig eine fortschreitende Individualisierung. Die einzelnen Menschen teilen ihre Lebenswirklichkeiten mit Hilfe moderner Informationstechnologie in einem unbegrenzten Rahmen und halten sie elektronisch fest.
Dabei wird ihr Innenleben in Form von Gedanken, Wahrnehmungen, Erlebnissen und Einstellungen durch allgegenwärtige Interfaces permanent in das kollektive Gedächtnis des Menschheitskörpers eingespeist und als sogenannte Meme abgespeichert. Auf diese Weise entsteht eine gigantische Bibliothek an jederzeit abrufbaren Sinneseindrücken und Lebenserfahrungen.
Dabei dient dem Einzelnen die digitale Technologie als ein Testlabor für seine Weltwahrnehmung, indem er sie zur Modellierung seiner Realität sowie für die Simulation seiner Zukunftsszenarien auf einen gigantischen Mempool zugreift. Dabei erfolgt die Konstruktion der kollektiven Wirklichkeit durch Storytelling.
Auf diese Weise entsteht ein komplexer Bauplan der kollektiven Wirklichkeit und einer multipolaren Weltordnung. Dadurch findet eine soziotechnologische Steuerung der Gesellschaft statt, in welcher jeder Teil des Ganzen als Local Player das Global Game aktiv mitbestimmen und zu einer kontinuierlichen Entwicklung des Homo Dividuum beitragen kann.
Künstliche Intelligenz als autonome soziale Akteure
Es stellt sich die Frage, ab wann eine komplizierte Maschine zu einer komplexen Entität, und damit zu einem Individuum, einem sozialen Akteur, wird. Auch wenn KI-Maschinen nicht, oder noch nicht von Beginn an, aber später vielleicht, über eine eigene bewusste Individualität verfügen, so entsteht doch ein soziales Gegenüber, mit dem der Mensch auf Augenhöhe kommunizieren kann.
Bereits heute lässt sich beobachten, wie mittels KI aus Objekten, wie z.B. Maschinen, Werkzeuge und sonstige Alltagsgegenstände, soziale Subjekte werden, mit denen Menschen interagieren können, so wie sie heute bereits mit Haustieren interagieren. Je weiter die technologische Entwicklung voranschreitet, könnten Menschen diese KI-Subjekte als menschenähnliche Sozialpartner wahrnehmen.
Ob es sich dabei um ein im menschlichen Sinne intelligentes Gegenüber mit eigenen Willen und Entscheidungen, ist derzeit noch unklar. Wenn dies der Fall wäre, ließen KI und Roboter sich als autonome soziale Akteure betrachten, wie sie einen bestimmten Grad an subjektiver Spontanität aufweisen und sich sozial verhalten, das heißt Kollektivieren ohne ihre Eigenständigkeit dabei aufzugeben.
Gesellschaftssteuerung mittels Predictive Analytics-Technologie
Je mehr Verhaltensweisen institutionalisiert sind, desto mehr Verhalten wird vorhersagbar und kontrollierbar. Wenn die Sozialisation des Einzelnen in die Gesellschaft hinein erfolgreich war, verhält sich das Individuum wie alle anderen es erwarten.
Aufgrund der aktuellen Dividualisierung der individuellen Lebenswirklichkeiten sinkt die Vorhersagbarkeit des Einzelnen für die Gemeinschaft. Aus diesem Grund bedarf es anderer Wege der Verhaltenssteuerung und -kontrolle.
In einer hochtechnologisierten Gesellschaft bieten sich Methoden des Trackings und Monitorings von Verhalten sowie die algorithmische Berechnung von Voraussagen an. Die mathematischer Berechnung des menschlichen Verhalten, lässt sich zwar mit statistischer Wahrscheinlichkeit voraussagen, aber für den konkreten Einzelfall ist diese Aussage nicht aussagekräftig.
Übergang von einer Demokratie zu einer Technokratie
Wir stellen ernsthaft in Frage, ob die demokratisch gewählten Regierungen der Nationalstaaten wirklich einen Überwachungsstaat installieren wollen, wie ihnen seitens Systemkritiker unterstellt wird, oder ob diese Unterstellung auf einer haltlosen Verschwörungstheorie beruht. Hierzu setzen wir den demokratischen Nationalstaat in einen neuen Rahmen und zeigen seine Rolle in einer global digitalisierten Welt auf.
Die Demokratie ist eine Regierungsform die auf Mitbestimmung und Repräsentation der Bürger basiert. Eine demokratische Technokratie hingegen stellt ein Rahmenkonzept für ein regelbasiertes demokratisches System dar, in dem Kennzahlen für Strukturrelevanz und von Bürgern erarbeitete Metadaten zur Steuerung der gesellschaftlichen Prozesse herangezogen werden.
Im Vordergrund steht die rationale, effektive Planung und Durchführung zielorientierter Vorhaben. Während sich die Aufmerksamkeit ganz auf Mittel und Wege konzentriert, verringert sich die Bedeutung der Parteien, der demokratischen Willensbildung und politischer Entscheidungsprozesse hinsichtlich der Wahl gesellschaftlicher Ziele.
Anstatt dessen erfolgt in einer digitalisierten Welt eine Steuerung der Gesellschaft auf Basis von Zahlen. Die Technokratie ist eine Gesellschaftsform, in der alle Handlungen auf wissenschaftlichem und technischem Wissen aufbauen sollen. Wissenschaftler, Ingenieure und andere naturwissenschaftlich und technisch fähige Personen, oft auch aus der Praxis der Wirtschaft, ersetzen dabei Politiker.